Kapitel 7: Das Establishment
Das Establishment war in den europäischen Ländern bis zur Französischen Revolution 1789 über mehrere Jahrhunderte relativ überschaubar strukturiert: Der Adel und der Klerus teilten sich die Aufgabe der Domestizierung des Volkes und unterstützten sich gegenseitig in Krisensituationen.
Danach begann jedoch der lange Abstieg des Adels, der mit dem Zusammenbruch zweier Kaiser- und eines Zarenreiches am Ende des Ersten Weltkrieges den privilegierten gesellschaftlichen Status des Adels aufhob. Auch der Klerus war nach der Französischen Revolution und bedingt durch die Aufklärung mit partiellem oder vollständigem Machtverlust konfrontiert. Durch vielfältige gesellschaftliche Prozesse entstanden neue Eliten, deren Standortbestimmung besonders ab der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts eine zusätzliche Differenzierung erforderlich machte. Aus diesem Grund betrachten wir innerhalb des Establishments einzelne Gruppen in der Gegenwart, um ihr gruppenspezifisches Glückspotenzial genauer analysieren zu können.
Der Adel
Die meisten adligen Familien sind geschichts- und traditionsbewusst, somit bestens über ihre Urahnen informiert, die entweder durch möglichst viele getötete Gegner auf dem Schlachtfeld im Auftrag ihres Landesherren oder durch besondere Dienste – oft auch lebensrettende für einen Herzog oder König – aufgefallen und in den Adelsstand erhoben worden sind.
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Auch wenn man nicht zur englischen, schwedischen oder holländischen königlichen Familie gehört, bildet man als Adeliger zweiter Klasse immer noch die Existenzgrundlage von manchen Hochglanzmagazinen, um den Rest kümmert sich dann die jeweilige Lokalpresse. Diese Aufmerksamkeit ist dem voyeuristischen Bedürfnis weiter Bevölkerungsteile geschuldet, am Leben berühmter Menschen, und unter denen am liebsten der Adligen, zu partizipieren, das im Gegensatz zur eigenen langweiligen und mitunter tristen Existenz glamourös, aufregend und gern auch skandalös zu sein hat. Kommen die Adligen diesen Erwartungen nicht nach, so sorgt ein Heer von Journalisten und Gesellschaftskolumnisten dafür, dass das Leben der Adligen eben glamourös, aufregend und auch skandalös erscheint. Wenn man nur die Printmedien betrachtet, verschwinden jährlich ganze Wälder als Arbeitsnachweis der Bemühungen der Journaille.
Das traditionell ohnehin gute Verhältnis unter Ihren Familienmitgliedern können Sie noch steigern und gesellschaftliche Zusammenkünfte mit anderen Adligen im Rahmen einer gemeinsamen Jagd, bei Schlosskonzerten oder Bällen bewusst ausbauen. Sie können sich mit Ihrer Familie in Ihr Familiendomizil zurückziehen, wenn ein Schlosspark vorhanden, darin lange Spaziergänge unternehmen, und Ihren Kindern und Enkelkindern bei der Auswahl der 10 bis 12 Vornahmen für angekündigte Neugeborene helfen, denn dies ist keine einfache Herausforderung und muss unter Berücksichtigung der Ahnenreihe und sonstiger Rahmenbedingungen mit Bedacht erfolgen...
Der Geldadel
Zum Geldadel gehören alle Millionäre und Milliardäre, die entweder durch eine Erbschaft, Einheirat, kriminelle Machenschaften oder ausnahmsweise durch harte Arbeit, jedenfalls ohne einen Adelstitel zu besitzen bzw. erworben zu haben, diesen Status genießen dürfen. Die Unterschiede der aufgezählten Wege, in die Reihen des Geldadels aufgenommen zu werden, sind oft marginal, denn auf dem Weg nach oben werden in der Regel die letzten zwei dieser Methoden benötigt. Ob man einen erfolgreichen Softwarekonzern gründet, führendes Mitglied der Mafia oder im internationalen Waffenhandel tätig ist oder aber als Oligarch die Ressourcen des eigenen Landes gewinnbringend verschleudert – ohne Härte und Durchsetzungsvermögen kommt man in diesen Disziplinen nicht weit
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Man kennt und trifft sich auf Yachtmessen, Rüstungsmessen und Empfängen aller Art, die den eigenen Geschäften nützlich sein könnten. Aber man darf sich nie entspannt zurücklehnen, denn auch Milliardäre sind schon mal plötzlich pleitegegangen, in Ungnade gefallen und für Jahre ins Gefängnis gewandert. Manchmal mussten Ölscheichs wegen versiegender Ölquellen Sparmaßnahmen verordnen oder Oligarchen aus ihrem Land fliehen, weil sie bei der politischen Führung in Ungnade gefallen waren. Auch ein Mafiaboss kann trotz befreundeter Politiker und Informanten bei der Polizei in einen Kugelhagel der Konkurrenz geraten und außerplanmäßig das Zeitliche segnen
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Wenn Sie kreativ sind, nach Zukunftsmodellen für neue Lebensformen suchen und ein Vermögen in Höhe eines mindestens zweistelligen Millionenbetrags in Dollar besitzen, dann wäre die Seasteading-Bewegung das Richtige für Sie. Diese in San Francisco ansässige Gruppe besteht aus exzentrischen Investoren wie Internet-Millionären aus dem Silicon Valley, die von einem Leben auf hoher See ohne irgendeinen staatlichen Eingriff träumen. Auf schwimmenden Plattformen in internationalen Gewässern sollen Gemeinschaften entstehen, die ohne Steuern und staatliche Bürokratie eine freie Entfaltung und eine ungehinderte Vermehrung des Wohlstands der Mitglieder garantieren. Wenn Sie also mit Gleichgesinnten und ihren Familien zusammenleben, dann sind Sie auch von allen Lahmen und mühselig Beladenen Ihrer Gesellschaft befreit, die Sie sonst durchfüttern und deren Erfolgslosigkeit Sie mit Ihren hohen Steuern auch noch belohnen müssten. Ohne den Ballast der sozialen Verantwortung können Sie Ihre Fähigkeit voll entfalten und Ihr Vermögen kontinuierlich vermehren. Für Ihre Kinder werden speziell examinierte Lehrerinnen und Lehrer eingestellt, die Ihr spezielles Weltbild im Unterricht vermitteln, um die Homogenität der Gemeinschaft zu gewährleisten...
Die Wirtschaftselite
Die Wirtschaftselite definiert sich durch absolute Leistungsbereitschaft, Effizienz und Disziplin, um die festgelegten Ziele zu erreichen oder zu übertreffen. Dies erfordert Härte auch gegenüber der eigenen Person, und so ist es folgerichtig, dass fast ausschließlich leistungsorientierte Jugendliche - die sogenannten Leistungskinder - für eine Laufbahn, die zum Aufstieg in die Wirtschafselite führt, in Frage kommen.
Leistungskinder stammen aus Familien, in denen sie durch die vorausschauenden Eltern schon früh genug auf den harten Konkurrenzkampf im Leben vorbereitet werden. Diese Eltern lassen ihren Kindern menschliche Wärme, Zuneigung, spontane Umarmungen und Anerkennung nur in wohldosierten Portionen zukommen, die immer mit erzielten Leistungen gekoppelt sind. Die emotional dermaßen ausgehungerten Kinder lernen, dass sie erst durch erbrachte Leistung die ersehnte emotionale Zuwendung ihrer Eltern bekommen. Sie verinnerlichen dieses Prinzip und optimieren sich so fürs weitere Leben, dass ihre Leistungsfähigkeit in einem permanenten Lernprozess kontinuierlich ausgebaut wird. Die Eltern haben vielleicht hier und da leichte Gewissensbisse, wenn aber ihr Kind in seiner Eigenschaft als Vorstandsvorsitzender eines weltweit operierenden Konzerns z.B. zum 70. Geburtstag des Vaters gratuliert, dann wissen sie, dass sie alles richtig gemacht haben und diese nur zum Wohle der Kinder angewandte Härte die Voraussetzung für deren Erfolg im Leben war...
Sie selbst befinden sich in einem ständigen Selbstoptimierungsprozess und trainieren täglich sowohl ihren Körper als auch ihre Kampfmethoden für den weiteren Aufstieg. Bevor sie frisch geduscht um 6 Uhr früh das Haus verlassen, sind sie bereits 10 Kilometer gelaufen. Hierbei werden alle technischen Hilfsmittel der Leistungsüberwachung verwendet, Herzrhythmus, Blutdruck, Puls, Anzahl der Schritte, zurückgelegte Strecke usw. werden online ins Netz übertragen, die Auswertung bekommen sie mit dem Kaffee auf den Frühstückstisch. Agil, schlank, durchtrainiert und voller Tatendrang erscheinen sie auf dem Büroschlachtfeld und beginnen frisch gestählt den täglichen Kampf gegen die Konkurrenten. Hierbei dient den meisten Machiavellis Buch „Il Principe“ als Anleitung, in dem das Basiswissen für machtausbauende und machterhaltende Handlungsmuster enthalten ist. Konsequent angewandt steigen sie nach einer angemessenen Zeit in die Vorstandsetagen hoch...
Bei vielen sind irgendwann die geistig-seelischen Reserven aufgebraucht, und sie steigen aus, bevor sie ein Burnout erleiden oder ihr Körper nicht mehr mitmacht. So eröffnen sie lieber ein Bio-Restaurant in Deutschland oder kaufen ein Weingut in Südfrankreich, bevor sie mit Herzinfarkt oder Schlaganfall auf der Intensivstation landen.
Daher sollten Sie Ihren rechtzeitigen Ausstieg sorgfältig planen. Auf der ersten Stufe sollten Sie im Rahmen Ihrer Möglichkeiten einen guten Vertrag für leitende Angestellte mit besonderen Ausstiegsklauseln bei einer wirtschaftlich soliden Firma oder Versicherungsgesellschaft abschließen. Bei einer vorzeitigen Beendigung des Vertrags seitens der Firma sollten Sie eine Abfindung in Millionenhöhe bekommen.
Nach ein paar Monaten Übergangszeit können Sie mit der zweiten Stufe des Projektplans beginnen, indem Sie die ausgebliebenen wirtschaftlichen Erfolge dem Vorstand oder wahlweise dem Aufsichtsrat in die Schuhe schieben und dies überall in vertraulichen Gesprächen kundtun.
Sollten Sie Pech haben, und Ihre Firma macht von Jahr zu Jahr steigende Gewinne, dann verweisen Sie darauf, dass diese Steigerung doppelt so hoch ausfallen würde, wenn nicht diese unfähige Geschäftsführung mit ihrer fachlichen Inkompetenz dem im Weg stehen würde.
Auf der dritten Stufe können Sie sich zunehmend daneben benehmen, indem Sie z.B. vor dem Weihnachtsfest Ihrer Firma reichlich Flatulenz fördernde Lebensmittel zu sich nehmen und als Beitrag zur guten Stimmung das Fest mit akustisch gut wahrnehmbarem Entweichen von Darmgasen bereichern. Der Erfolg lässt nicht lange auf sich warten, und Sie werden mit einer Millionenabfindung mit sofortiger Wirkung entlassen. Auf der letzten Stufe müssen Sie nur noch Ihre Entschleunigung bewerkstelligen; hier kann ein mehrmonatiger Aufenthalt in einem Zen-Kloster in Japan oder in einem griechisch-orthodoxen Kloster in der Mönchsrepublik Athos auf der Halbinsel Chalkidikí Wunder bewirken...
Die Unterhaltungselite
Eine der jüngsten Eliteklassen bildet die Unterhaltungselite, die durch das Aufkommen von Film, Funk und Fernsehen im 20. Jahrhundert einen enormen Aufschwung erfahren hat. Hier ist jedoch auch die Fluktuation am größten, denn neben millionenschweren Protagonisten wie Madonna, Brad Pitt oder den Rolling Stones bilden eher die Eintagsfliegen die Mehrheit, die ihr kurzes Zeitfenster der Zuneigung ihrer Fans gewinnbringend abschöpfen müssen, bevor sie wieder in der Versenkung verschwinden. Auf dem Weg nach oben ist die Intelligenz beim werdenden Star höchst kontraproduktiv, die Masse ist nun mal nicht so und möchte ihr Ebenbild personifiziert erleben.
So erobern Protagonisten mit überwältigender Schlichtheit die Bildschirme und Kinoleinwände, um ein ebensolches Publikum zu Ovationen zu animieren. Wenn einer aber schauspielerisch unterirdisch ist und durch seinen Gesang friedfertige Hyänen zur panischen Flucht veranlasst, zieht er in überwachte TV-Container à la „Big Brother“ beim Fernsehsender RTL ein und hofft, ohne jede künstlerische Leistung das Herz von Millionen zu erobern...
Aber auch in der Bildenden Kunst bestehen heutzutage exzellente Chancen, berühmt und reich durch die eigene Kunst zu werden. Es ist nicht einmal Talent erforderlich, Hauptsache, man fällt durch ungewöhnliche Aktionen oder künstlerische Themen auf und kann möglichst unverständlich darüber in der Öffentlichkeit reden. Nachdem z.B. der Maler Georg Baselitz erstmals 1969 das Oben nach unten verkehrte und dazu eine plausible Erklärung lieferte, wonach der Zwang für den Betrachter größer wird, beim Bild genauer hinzuschauen, wurde er schlagartig international berühmt; seine Bilder erreichen seitdem horrende Preise in Millionenhöhe.
Viele Epigonen versuchten danach, dem Publikum etwas ähnlich Überraschendes zu präsentieren, es wurden z.B. Schweinehälften ausgestellt, die nach 2 Wochen nur noch mit einer Gasmaske bewundert werden konnten, oder es stellte eine Künstlerin in London ein nach drei Liebesnächten unverändertes Bett mit sämtlichen Spuren aus, all dies mit mehr oder weniger Erfolg...
Sollten Sie also zu den auserwählten erfolgreichen Schauspielern, Medienstars oder Künstlern gehören, dann wissen Sie, was dies für Sie bedeutet. Entweder werden Sie auf Schritt und Tritt auf der Straße angesprochen und bestätigen jedes Mal, dass Sie es sind, und hören sich minutenlange Wortbeiträge an, in denen wildfremde Menschen ihre Lebensgeschichte und ihre darin enthaltene wachsende Begeisterung für Sie in mehr oder weniger komprimierter Form auf Sie niedersausen lassen, während Sie dazu auch noch höflich lächeln müssen. Oder Sie schmücken Partys der Glitzergesellschaft, die überwiegend durch einen unterdurchschnittlichen Intelligenzquotienten der Anwesenden glänzen, wobei die meisten dieses Minimum in die Optimierung ihres Outfits und ihres Auftritts in der Öffentlichkeit investieren...
Die Sportelite
Nachdem der Sport eine geringe geistige Herausforderung für seine Anhänger bietet und länderübergreifend ein verbindendes Medium mit höchstem Bekanntheitsgrad für seine Spitzenvertreter darstellt, wird in keinem anderen Bereich der Unterhaltungsindustrie so viel Geld wie hier umgesetzt. Ob man Jugendliche in der Sahel-Zone, in Afghanistan oder in Indonesien nach Deutschland fragt, antworten diese meist postwendend mit glänzenden Augen: Thomas Müller und Manuel Neuer. Mit so einer weltweiten Begeisterung muss es doch möglich sein, viel Geld zu verdienen - und tatsächlich, es werden Milliarden mit dem Sport, primär mit dem Fußball, verdient.
Die Kreativabteilungen der Sportartikelhersteller arbeiten übrigens fieberhaft an der Neudefinition mancher Sportarten, die früher mit wenigen sportspezifischen Accessoires auskamen. Das einfache Schlendern in einer Landschaft mutierte zum Walking, später zum Nordic Walking. Hier kann man sich nicht mit alten T-Shirts und Trainingshosen blamieren. Eine adäquate Auswahl aus folgenden Artikeln ist dringend erforderlich: Walker Platinium Stöcke, Multiscarf, Trigger Shark Active Strap, Race Shark Headband, Drinkbelt, Function Cap usw.
Wenn Sie also zu den Spitzensportlern gehören, dann haben Sie ohnehin kaum Zeit, an der Weichenstellung für ein glückliches Leben zu arbeiten. Zwischen zwei Wettbewerben bzw. Spielen hängt Ihre Stimmung von der zuletzt gezeigten Leistung und dem entsprechenden Medienecho ab, ansonsten trainieren Sie verbissen, um bei der nächsten sportlichen Herausforderung eine Leistungssteigerung zu zeigen. Sind Sie ein Fußballspieler, so stellt sich erst nach dem Ende Ihrer aktiven Laufbahn die Frage, wie Sie die Weichen zum Glücklichsein stellen können. Warnende Beispiele gibt es genug: Manche Ihrer Kollegen sind dem Alkohol verfallen, andere haben sich völlig verrechnet und verspielten ihre gesamten Ersparnisse durch fragwürdige wirtschaftliche Investitionen. Wenn Sie sich für einen Weg als Fußballtrainer entscheiden, so setzen Sie die Abhängigkeit von den Medien und den Fans fort. Sie können in einer Saison in den Himmel gelobt, in der nächsten gnadenlos hinausgeworfen werden, wenn die von Ihnen trainierte Mannschaft die erwarteten Erfolge nicht liefern kann. In beiden Fällen muten Sie Ihrem Herz Schwerstarbeit zu, Ihr Puls steigt während des Spiels auf 180, und Ihr Nervenkostüm wird aufs Heftigste strapaziert.
Manche Fußballtrainer erleiden ein Burnout und ziehen sich abrupt vom Trainerjob zurück, um sich in einem Sabbatjahr zu erholen. Daher lautet unsere Empfehlung an dieser Stelle, dass Sie wenigstens einen gesunden Abstand zum Tagesgeschäft als Sportdirektor oder Vereinspräsident halten. Bei Misserfolg können Sie den Trainer entlassen und es mit dem nächsten versuchen; die Fans fordern nur in Ausnahmefällen, dass die ganze sportliche Führung zurücktritt...
Die politische Elite
Bis zum Zusammenbruch des Ostblocks im Jahr 1989 war die Auswahl der politischen Elite relativ transparent und für politische Beobachter berechenbar. Ehrliche Diktatoren wie Hitler und Stalin haben ihre politischen Gegner eingesperrt, gefoltert und umgebracht. Kompetente Mitkämpfer der ersten Stunde – Mitmarschierer auf die Feldherrnhalle in München, kommunistische Arbeiter aus zaristischen Gefängnissen usw. – erhielten Ministerämter oder andere Posten mit weitreichenden Befugnissen im politischen Machtapparat, jedoch bestanden zu keiner Sekunde Zweifel über ihre Auswahlkriterien. Auch in Ländern mit langer demokratischer Tradition wie z.B. in England waren die Parteiprogramme der konservativen Partei der Tories bzw. der Labour Party der Arbeiterbewegung klar definiert und die Ernennung der jeweils neuen Ministerriege nach einem Wahlsieg einigermaßen transparent.
In den ehemaligen Ostblockländern entstand nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen ein politisches Chaos, das am schnellsten die ehemaligen Politfunktionäre auszunutzen wussten, und ehe man sich versah, saßen sie schon in Führungsfunktionen neu gegründeter „demokratischer“ Parteien und entdeckten plötzlich, dass sie schon immer Oppositionelle waren und passiven Widerstand in der Diktatur leisteten. Je nach Erfolgschancen landeten sie bei sozialdemokratisch oder konservativ-nationalistisch geprägten Parteien, und so atheistisch sie auch in ihrem Vorleben waren, so tief religiös wurden sie auf einen Schlag. Sie adaptierten die scheinbar überlegene demokratische Struktur des Westens, jedoch begann zuerst in diesen Ländern die innere Aushöhlung demokratischer Institutionen. Das Ziel der politischen Klasse war, in einem chaotischen politischen System Angst und Unsicherheit bei den Bürgern zu erzeugen, um sich anschließend als Retter in der Not zu präsentieren. Das haben zwar politische Parteien auch im Westen immer wieder mal versucht, jedoch nirgendwo gelang dies so gut wie in den ehemaligen Ostblockstaaten...
Die nächste Politikergeneration der Populisten, zu denen der türkische Ministerpräsident Erdogan und der amerikanische Präsident Trump gehören, perfektionierten die machtergreifenden und machterhaltenden Methoden ihrer populistischen Vorgänger. Sie entdeckten, dass ihnen ihre zum Stimmvieh degradierten unbedarften Anhänger alle Charakterdefizite wie Narzissmus, Egoismus, Sexismus oder fehlenden Respekt gegenüber Minderheiten, sowie fehlenden Sachverstand, fehlende Sozialisierung und Beratungsresistenz nicht nur verzeihen, sondern als Stärke auslegen. Damit können sie sich so gebärden, wie sie sind, wütende Ausfälle über die Medien und das Internet direkt ans Wahlvolk übertragen, ausländische Staatschefs beleidigen, wüste Drohungen gegen Staaten aussprechen, dafür mimosenhaft auf Kritik reagieren – sie ernten begeisterte Zustimmung seitens ihrer Anhänger, und diese bilden nun mal die demokratische Mehrheit im jeweiligen Land...
Wenn Sie also Ambitionen entwickelt haben, auf einer populistischer Welle an den Gipfel Ihres Landes gespült zu werden oder sich bereits dort befinden, beachten Sie bitte folgende Aspekte der Machtergreifung bzw. -erhaltung:
• Versuchen Sie nie, ungeprüft Methoden Ihrer erfolgreichen Populistenkollegen zu übernehmen. Was z.B. in Russland zur guten Tradition gehört, unangenehm aufgefallene kritische Journalisten wie Anna Stepanowna Politkowskaja oder politische Konkurrenten wie Boris Nemzow einfach zu ermorden, das geht nicht ohne weitere Komplikationen in einem west- oder mitteleuropäischen Land, weil hier die Bevölkerung noch nicht entsprechend geschult ist, so etwas ohne Empörung zur Kenntnis zu nehmen.
• Trauen Sie keinem Ihnen noch so bedingungslos folgenden Anhänger vollständig, denn zu einem unerwarteten Zeitpunkt könnte gerade dieser einen hinterhältigen Angriff gegen Sie starten, wie z.B. im Jahr 2014 der Medienmogul Lajos Simicska in Ungarn gegen seinen früheren Kommilitonen und Vertrauten, den Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Simicska, der auf seinem Weg zum Medienmogul sehr viel Unterstützung durch den FIDESZ-Chef Orbán und durch die Partei erfuhr, hielt sich für stark genug für eine offene Konfrontation, in der er letztlich zwar unterlag, jedoch blieben auf beiden Seiten Blessuren zurück.
• Besorgen Sie rechtzeitig belastende Beweise auch gegen Ihre treuesten Parteifreunde, um diese Treue langfristig abzusichern. Hätte z.B. im oben geschilderten Konflikt der Parteichef Orbán rechtzeitig eine Akte der früheren Staatssicherheit über Simicska als inoffizieller Mitarbeiter angelegt (es muss ja nicht unbedingt zutreffen, mit ein wenig finanziellem oder administrativem Aufwand können entsprechende Informationen auch nachträglich eingeholt werden), so wären sie beide auch heute noch beste Freunde und würden Schulter an Schulter gegen die giftigen Hinterlassenschaften der kommunistischen Ära kämpfen.
• Wühlen Sie in der glorreichen Vergangenheit Ihres Landes so lange, bis Sie fündig werden und etwas ausgraben, worauf alle nationalistisch geprägten Patrioten stolz sein können, wie z.B. ein erfolgreicher Überfall auf ein Nachbarland, eine glorios gewonnene Schlacht oder listige Gebietseroberungen, wobei die Umstände völlig nebensächlich sind. Sollten Sie gar nichts finden, dann definieren Sie nachträglich den Ausgang einer Schlacht um, wie z.B. serbische Nationalisten die Schlacht am Amselfeld 1389 in einen glänzenden Sieg umdeuteten, der zur nationalen Identität des serbischen Volkes wurde, obwohl es im Kampf gegen das osmanische Heer keinen Sieger auf dem Schlachtfeld gab. Aber wen interessiert das schon, in Serbien wird jedes Jahr am 15. Juni der Gedenktag der siegreichen Schlacht gefeiert.
Wer jedenfalls bei solch feierlichen Anlässen als glühender Patriot mit der rechten Hand auf dem Herzen und mit Tränen in den Augen die Nationalhymne und weitere herzergreifende Lieder singt, der ist garantiert keiner differenzierten Analyse zugänglich, weder auf die Vergangenheit, noch auf die Zukunft, schon gar nicht auf die Gegenwart bezogen; er folgt Ihnen blind in allen Lebenssituationen.
• Beauftragen Sie die Historiker und Sprachwissenschaftler Ihres Landes damit, nachzuweisen, dass Teilgebiete eines Nachbarlandes - wenn nicht gar das ganze Nachbarland - rechtmäßig zum Territorium Ihres Landes gehören müssten und schüren Sie das Feuer des Patriotismus Ihrer Landsleute, indem Sie die Rückgabe dieser Gebiete vehement fordern. Ihren Fachleuten gelingt es mit Sicherheit, nachzuweisen, dass in den betroffenen Gebieten die eigenen Landsleute schon viel früher angesiedelt waren, und wenn es heutzutage keinen einzigen mehr dort gibt, dann wurden sie gewaltsam vertrieben, also handelt es sich um eine noch größere Ungerechtigkeit. Beispielhaft führte dies nach dem Zerfall der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn das Königreich Rumänien mit der Begründung vor, die Rumänen wären die direkten Nachfolger der Römer, die auch über das Gebiet des heutigen Transilvaniens (Siebenbürgens) und Pannoniens (Ungarn) herrschten, also würde Ihnen zumindest Transilvanien gebietsmäßig zustehen, da die Ungarn erst im Jahr 895 ins Karpatenbecken vorgedrungen wären. Bis dahin hätte das friedliche römisch-rumänische Volk dort Landwirtschaft und Viehzucht betrieben. Zwar gibt es außerhalb Rumäniens kaum einen Historiker, der diese Theorie der dako-römischen Kontinuität bestätigen würde, aber wen interessiert das schon? Die Siegermächte des Ersten Weltkrieges schlugen im Vertrag von Trianon Transilvanien dem rumänischen Staatsgebiet zu. Da haben die Italiener, Engländer, Deutschen und Franzosen noch Glück gehabt, dass sie keine Gebiete des ehemaligen Römischen Reiches an Rumänien abgeben mussten, und so waren bis auf die Ungarn, die bis heuten mit den Folgen dieses Traumas leben müssen, alle zufrieden...